Vision von Europa

Vision von Europa

Kunstwerk von Michel E. Poix

Ein Mensch, der in einem Kreis steht und mit ausgebreiteten Armen und Beinen an den Kreisrand stößt, ruft bei Kunsthistorikern wie auch bei vielen anderen Betrachtern ein- und dasselbe Bild ins Gedächtnis: Leonardo da Vincis (1452-1519) Proportionsschema des menschlichen Körpers. Im Zeitalter der Renaissance suchte man die idealen, menschlichen Proportionen festzulegen, um sie als Inbegriff des absolut Schönen aufs Papier zu bannen. Bereits ein erster Blick auf das Werk von Michel E. Poix macht deutlich, dass der Künstler mit diesem Ideal nur ansatzweise konform geht. Tatsächlich erweitert er die künstlerische Vision des 16. Jahrhunderts um ein Vielfaches, denn Poix setzt sie in einen gesellschaftskritischen Bezug zu einem der wichtigsten politischen Themen des 20. Jahrhunderts. Dieses Thema, dem sich der aus Troisdorfs französischer Partnerstadt Evry stammende Bildhauer widmet, lautet „Europa“.

In der griechischen Mythologie ist Europa eine der Geliebten des Göttervaters Zeus. Doch zeigt Poix keine begehrenswerte Frauengestalt. Vielmehr schuf er eine nahezu lebensgroße Figur, die aus einer Vielzahl von unregelmäßig geschnittenen Edelstahlstücken gefertigt wurde. Diese Stücke wurden absichtlich so „laienhaft“ zusammengeschweißt, dass es schnell offensichtlich wird, hier einer aus mehreren Teilen zusammengefügten Skulptur gegenüber zu stehen. Auch das Fehlen von Material und die damit eingeplanten Leerstellen innerhalb der bildhauerischen Arbeit sind beabsichtigt. Sie unterstützen den Eindruck einer Arbeit, bei der es vielleicht noch gelingen wird, die Einzelteile zu einem harmonischen Ganzen zusammen zu schließen. Möglich – und eher wahrscheinlich -  ist jedoch das Gegenteil: Der bereits stark geschundene Körper könnte alsbald vollständig zerbrechen.

Ob positiv oder negativ zu deuten, mit beiden Interpretationsmöglichkeiten macht Michel Poix auf den fragilen Zustand Europas aufmerksam. Er zeigt, dass sich hier ein politischer Gedanke im Schwebezustand befindet und es grundsätzlicher Initiativen bedarf, um die Vielzahl der Einzelstücke zu einer gestalteten Einheit zusammenzufügen bzw. um die einmal gewonnene Einheit nicht wieder zu zerstören. Sinnfällig setzt der Künstler die in Einzelteilen zergliederte Skulptur in einen angedeuteten Kreis, der ein großes „E“ beschreibt. Dieses „E“ richtet sich in seinem Umfang nach den Maßen der Skulptur. Symbolisch umfasst es die menschliche Gestalt, stützt sich zugleich aber auch auf diese. Subtil macht Poix damit deutlich, dass einzig und allein der Mensch dazu befähigt ist, ein Europa ent- und bestehen zu lassen. Der Mensch, aus Einzelteilen zusammengefügt, betont, dass er „kein monolithisches Wesen ist“. Er setzt sich selbst aus vielen Facetten zusammen. Diese Facetten spiegeln sich im europäischen Gedanken und weisen auf die Schwierigkeiten hin, Einheitliches hervorzubringen.

Michel E. Poix wünscht sich ein Europa „der Humanität und der Kultur“. Mit seiner Skulptur „Vision von Europa“ bezieht er Stellung zu einem ganz konkret politischen Thema. Politik ist jedoch ebenfalls von Menschen gemacht. Und somit verweist der Künstler über gesellschaftlich allgemeine Themen hinaus immer auch auf die existentielle Situation des Menschen und auf die Position des Einzelnen innerhalb der  sozialen - europäischen - Gemeinschaft.